Fall Guys ist ein Spiel, das sich selbst als Casual-Unterhaltung mit Freunden für Zwischendurch präsentiert, das in Wahrheit aber der Leibhaftige persönlich ist. Der Traum vom sozialen Fun-Garant entpuppt sich schnell als individualistischer Albtraum voller Redundanz. Among Us ist ein Spiel, das euch zwingt, eure besten Freunde mit Unwahrheiten zu täuschen. Dabei zeigt es eindrucksvoll das ungenutzte Potential zwischenmenschlicher Interaktionen in Games auf – und bietet trotz der vorsätzlichen Lügerei das sozialere Spieldesign.
Fall Guys: Jump ’n‘ Run-Royale
Ich muss zugeben, dass ich von Fall Guys getäuscht wurde. Die Konnotation mit Satan kommt also nicht von ungefähr. Die düdelige Gute-Laune-Musik, die Omnipräsenz auf Twitch und Co. und die familienfreundlich gestalteten Spielfiguren wiegten mich in Sicherheit. Das Spielprinzip ist simpel: 60 Menschen begeben sich in eine Spielshow mit unterschiedlichen Disziplinen, die an die absurden Hindernisläufe aus Takeshi’s Castle erinnern. Dabei wird die Zahl der Überlebenden mit jeder Runde kleiner. Wer als Letzter übrig bleibt, gewinnt und ergattert sich damit eine Krone.
Der ein oder andere wird sich jetzt vielleicht denken: Alles klar, Johannes, klingt nach dem Battle Royale-Prinzip, das wir die letzten Jahre allzu oft gesehen haben, was macht Fall Guys denn in puncto Ellenbogen-Gameplay und Individualismus-Trieb so besonders? Tatsächlich bieten Spiele dieses Genres einen besonderen Fokus auf die Durchhaltungskräfte und die Auszeichnungswürdigkeit des Einzelnen. Bei Fall Guys ist das natürlich nicht anders. Und dennoch gibt es im Spiel gewisse Designentscheidungen, die eure Antipathie gegen die anderen Mitspielenden in ganz besondere Höhen treibt.
Stehengeblieben!
Bei einem Jump-and-Run könnte man ja meinen, dass die Kernkompetenz, die im Mittelpunkt steht, und die in jeder der Disziplinen auf unterschiedlichste Weise abgefragt wird, das gekonnte Laufen und Springen ist. Die Steuerung von Fall Guys wurde aber um eine zusätzliche Interaktion erweitert: Das Festhalten. Mitunter benötigt ihr diese Fähigkeit dazu, Objekte zu Greifen und zu Verschieben. Aber genauso gut könnt ihr damit andere Spielfiguren am Vorankommen hindern. Das Spiel hat ein Faible für Situationen, in denen ihr euch gegenseitig im Weg steht, ob absichtlich oder unabsichtlich. Springt ihr inmitten eines Pulks an Figuren, dann kann es (nicht selten) vorkommen, dass ihr in der Luft abgeblockt werdet und auf die Schnauze fliegt – der Name ist Programm.
Da das Spiel euch immer vom Start weg als Gruppe durch die Strecken schickt, und die Hindernisse immer eine Verknappung des Spielraums bedeuten – beispielsweise in Form einer sich drehenden Rolle, über die ihr balancieren müsst – ist das Design dafür prädestiniert, dass ihr und eure Mitspielenden euch gegenseitig auf die Nerven geht. Zumindest, wenn ihr es nicht gleich schafft, mit einer Mischung aus Glück und Talent dem anfänglichen Knäuel an Teilnehmenden zu entfliehen.
Wer geiert, gewinnt
Auch abseits von der Möglichkeit, seine Mitstreiter festzuhalten, zeigt Fall Guys die Ideologie seines Spieldesigns. So geht es in einem der Spiele darum, über gewichtsverlagernde Wippen bis ans Ende der Strecke zu springen. Um eine der vorderen Wippen zu erreichen, muss allerdings erst genug Gewicht aufgebracht werden, um den richtigen Winkel zum Absprung zu erreichen. Dafür müssen sich die Spielenden aber auf der Seite der Wippe sammeln, von der aus ein Absprung auf die nächste Plattform nicht möglich ist. Ihr könnt euch schon denken, was passiert. Die gierige Masse geiert auf der Seite, die ihr das Weiterkommen ermöglicht, während einige Wenige erfolglos versuchen, das Gewicht zu verlagern – im Wissen, dass es für sie anschließend schwieriger wird, selbst das andere Ende zu erreichen, ehe es wieder zurückkippt.
In einem anderen Spiel müsst ihr durch mehrere Ringe springen, um euch für die nächste Runde zu qualifizieren. Diese tauchen an zufälligen Koordinaten auf, manche davon sind jedoch nur über verschiebbare erhöhte Blöcke erreichbar, auf die man draufklettern kann. Hier beobachtet man die gleiche Farce: Während einige lechzende Spielende jedes Mal erneut die zu weit vom Ring entfernten Kasten besteigen und beim Durchspringen scheitern, greifen sich andere ein Herz und schieben die mobilen Sprunghilfen näher an den Reifen. Die auf dem Kasten campierende Meute wartet nur auf den richtigen Moment und springt ab. Die schiebende genauso wie die gewichtsverlagernde Person steht blöd da. Denn Punkte für Vorlagen gibt es natürlich nicht.
Diese gegenseitige Behinderung macht sich sogar in den Teamspielen erkennbar, die Fall Guys bietet. In einem dieser müsst ihr als Gruppe einen Ball erst durch einen Hinderniskurs, dann eine weite Strecke entlang in ein Tor bugsieren. In der Praxis sieht das dann so aus, dass jedes Team so gut wie möglich versucht, den Ball der anderen Teams daran zu hindern, ins Tor zu gelangen. Diese vorgestellte Design-Schablone lässt sich an so gut wie jede weitere Disziplin in Fall Guys anlegen. Im Spiel geht es mindestens genau so sehr um das Aufhalten und Vereiteln des Erfolgs der anderen, wie es darum geht, die eigene Überlebensfähigkeit unter Beweis zu stellen. Wer diesem Dogma im Sinne eines – wenn auch nur kurzzeitig aufflackernden – Sportgeistes zu widersprechen versucht, wird bestraft. Dass die Redundanz der Qualifikationsspiele der ersten und zweiten Runde im besonderen Maße eine Abneigung gegen die sich gegenseitig aufhaltende Masse hervorruft, ist dabei die Kirsche auf der in Zuckerguss getarnten Schaumstofftorte.
Among Us: Ziemlich verdächtig
Nachdem der Hype von Fall Guys ein wenig abflachte und die begrenzte Anzahl an Disziplinen in der ersten Season den Leuten allmählich zum Halse heraushing, schlich sich allmählich ein neuer Titel auf den Twitch-Thron. Among Us erschien zwar bereits 2018, doch da scherte sich anscheinend noch niemand um den Titel. Erst durch den Streamer ‚Sodapoppin‘ begann ein initialer Hype, der das einfache aber geniale Spielprinzip von Among Us der breiteren Masse bekannt machte. Das Spiel basiert auf dem 1986 von Dimitry Davidoff entwickelten social deduction game Mafia, auch bekannt als Werwolf. Das Ziel: Lügen. Und zwar so, dass es nicht auffällt.
In der Version von Among Us sieht das wie folgt aus: Ihr schlüpft entweder in die Rolle eines unschuldigen Crewmates oder eines von maximal zwei blutdürstigen Imposters innerhalb einer Spielrunde mit bis zu 10 Mitstreitenden. Die Crewmates müssen auf der jeweiligen Karte, die gespielt wird, Aufgaben erfüllen, währenddessen die Imposter durch Sabotage und Mord Stück für Stück die Zahl der eifrigen Arbeitsbienen dezimieren müssen – und das möglichst ohne, dass jemand Verdacht schöpft, denn nach jeder gemeldeten Leiche wird eine Krisensitzung einberufen, in der die Gruppe – im Idealfall über eine Voice Chat-Plattform wie Discord – darüber beratschlagen kann, wer die möglichen Verräter sind, um diese anschließend per Stimmenabgabe mehrheitsdemokratisch von Bord zu werfen.
Dabei entwickelt sich allmählich eine eigene Sprache, die in etwa so aussieht:
Ein toter Körper wurde gefunden, eine Krisensitzung wird einberufen
Rote Figur: Ich hab‘ die Leiche von Blau im Navigationsraum gefunden.
Dunkelgrüne Figur: Ganz am Anfang der Runde habe ich Blau mit Pink in der Nähe davon gesehen.
Pinke Figur: Ich war nur ganz kurz mit Blau unterwegs, danach war ich die ganze Zeit bei Schwarz.
Schwarze Figur: Das kann ich bestätigen. Wir haben sogar gemeinsam den Reaktor-Alarm ausgeschaltet.
Hellgrüne Figur: Moment! Ich stand im Kameraraum und habe gesehen, wie Blau mit Pink in den Navigationsraum gegangen ist, aber Pink hab ich nicht mehr rauskommen sehen! Also bist du in einen der Lüftungsschachte der Imposter gesprungen, und an einem andern Ende der Map wieder rauszukommen!
Pinke Figur: (lügt) … dann hast du wohl nicht richtig auf die Kamerabildschirme geschaut, ich bin nämlich wieder aus dem Navigationsraum rausgekommen.
Gelbe Figur: Ich war mit Hellgrün im Kameraraum und kann zumindest bestätigen, dass sie nicht die ganze Zeit an den Bildschirmen stand.
Pinke Figur: (atmet innerlich durch)
Ihr merkt schon, es ist ein ziemliches Hin-und-Her, das auch zu einiges an Verwirrung führen kann. Auch klingt bereits an, wie komplex der Austausch untereinander mitunter ist und wie viele mögliche Ebenen des Spielens Among Us bietet. So viele, dass ich gar nicht genau weiß, wo ich anfangen soll. Vielleicht vorab noch ein paar grundlegende Informationen, um die Mechaniken des Spiels etwas besser überblicken zu können.
Easy to learn, hard to master
Among Us ist ein im Kern simpel gestaltetes Spiel, das ich ohne weiteres in der Kategorie „easy to learn, hard to master“ verorten würde. Diese simple, in 2D gehaltene Gestaltung geht zurück auf die Ursprünge des Spiels, welches 2018 zuerst für das Smartphone erschien und sein übersichtliches Steuerungsformat einigermaßen originalgetreu auch für seine später erschienene Steam-Fassung übernahm. Als Crewmate habt ihr einen Knopf, um mit euren kreuz und quer auf der Karte verteilten Aufgaben zu interagieren, und einen, um gefundene Leichen zu melden. Die Aufgaben beschränken sich auf einfachste Eingabeanforderungen; mal müssen gleichfarbige Kabel miteinander verbunden, mal ein Schalter heruntergedrückt werden. Das reicht auch völlig aus, denn die einzige spielmechanische Notwendigkeit hinter den Aufgaben ist, dass sie euch von euren restlichen Crewmates trennen und in die entferntesten Ecken der Karte schicken.
Als Imposter werdet ihr mit einem cooldown-beschränkten Knopf zum Meucheln ausgestattet und könnt zusätzlich noch eine Sabotagekarte öffnen, über die ihr verschiedenste Aspekte der Umgebung lahmlegen könnt. So schaltet ihr beispielsweise das Licht aus und lasst die Crewmates im Dunkeln rumirren (während eure Sichtweite die gleiche bleibt), oder ihr zwingt sie dazu, gleichzeitig zwei verschiedene Orte der Karte aufzusuchen, um rasch einen Code einzugeben, damit die Sauerstoffzufuhr des Raumes wiederhergestellt wird, ehe ein Countdown abläuft und die Niederlage der Crewmates verkündet.
Durch die einfache Eingabe und die Tatsache, dass der Großteil des Spiels eher durch bedachte Spielzüge und die Kommunikation in den Meetings bestimmt ist, als durch Reaktionsgeschwindigkeit, ist es auch das perfekte Spiel um weniger erfahrene Spielende mit ins Boot zu holen. Zwar spielen Kenntnisse über die Map und deren Mechaniken eine nicht unwichtige Rolle und gestalten die Spielerfahrung zunehmend komplexer, doch selbst aufrichtiges oder auch nur vorgetäuschtes Unwissen über gewisse Aspekte des Spiels führen mitunter zu Unsicherheiten innerhalb der Gruppe und können im Extremfall sogar als Waffe gebraucht werden. Denn die Frage, welche Aussagen seiner Mitspielenden man für bare Münze nehmen kann und welche nicht, steht im Mittepunkt jeder Partie.
Postfaktisch The Game
Schnell wird dabei eines klar: Es geht oftmals viel weniger darum, was Menschen in den Spielpassagen zwischen den Meetings tatsächlich gesehen haben – wem man wo zu welchem Zeitpunkt begegnet ist, entschwindet während der eigenen Aufgabenhatz nämlich schneller dem Gedächtnis, als einem lieb ist – sondern vielmehr darum, welches vorgetragene Narrativ am überzeugendsten klingt. Ein guter Imposter versucht nicht nur seine Opfer möglichst unbemerkt umzubringen. Ein guter Imposter macht sich gleichzeitig darüber Gedanken, wie sich ein Alibi aufbauen lässt, das das Scheinwerferlicht von der eigenen Person weglenkt. Wie lässt sich der Verdacht auf andere schieben, wie gelingt es, unschuldige Crewmates von der eigenen Unschuld zu überzeugen, ja, wie lassen sich vielleicht sogar falsche Erinnerungen bei seinen ‚Opfern‘ einpflanzen, die durch die tatsächlichen ergänzt werden und das eigene Alibi damit perfekt machen?
Das metagaming in Among Us ist geradezu poker-esque. Es wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass sich nach einer gewissen Spielzeit bestimmte charakterliche Eigenschaften und Spielweisen herauskristallisieren und die Spielenden, ob sie wollen oder nicht, mit bestimmten Rollen konnotieren. Wer hängt ständig an den Überwachungskameras? Wer gibt sich als besonders ruhig oder besonders wortstark in der Imposterrolle? Wer neigt trotz eigener Unschuld dazu, aus Bauchgefühlen Tatsachen zu spinnen und den eigentlichen Verrätern damit in die Hände zu spielen? Für letzteres hat das metagaming in Among Us bereits einen Fachausdruck gefunden: Der dritte Imposter.
Die allgemeine Verwirrung ist der größte Freund des Imposters. Im Idealfall hört man nach einer verlorenen Runde und dem sinister aufleuchtendem „Defeat“-Schriftzug mindestens eine entrüstete Stimme eines Crewmates, die ihren Unglauben darüber zum Ausdruck bringt, wie sehr sie sich die ganze Partie über getäuscht hat. In diesem finalen Moment der Enthüllung offenbart sich Among Us im Kern als Rollenspiel mit Ähnlichkeiten zu Spielprinzipen wie Pen and Paper oder LARP. Ihr schlüpft entweder in die Rolle eines Crewmates oder eine Imposters und müsst dessen Anforderungsprofil mit euren Wortmeldungen möglichst gekonnt ausfüllen. Dass sich Freund und Feind dabei zunehmend schwer differenzieren lassen, macht das Spiel zum ultimativen psychologischen Selbstexperiment unter Freunden.
Brecht 2.0
Durch das Einverleiben eben dieser beiden Spielweisen entsteht im Idealfall auch eine Distanzierung, die den Groll über das Handeln der eigenen Person auf das fiktionale Rollenspiel verlagert. Beinahe wird Among Us dann zu einer etwas abstrakten 2.0-Version von Brechts epischem Theater. Wo politische Bildung auf der Bühne noch durch Selbstreflektion der eigenen Lebensumstände erzielt wurde, bietet Among Us einen Schauplatz, der soziale und psychologische Interaktionen schulen lässt: Wie lässt sich unter Crewmates trotz unvollständiger Informationslage zum Geschehen ein gemeinsamer Konsens finden, der den kontrafaktischen Machenschaften der Imposter entgegenwirkt? Wie funktioniert Kommunikation so, dass sich bruchstückhafte Informationen zu den Aktivitäten einzelner Figuren gegenseitig ergänzen und schlussendlich zur Überführung der Imposter beitragen?
In einer Welt, die zunehmend an Erkenntnissen zweifelt, die jahrzehntelang als gesetzt galten, in der das epistemologische Fundament unserer Gesellschaft negiert und unterwandert wird, ist kaum ein Spiel so zeitaktuell und relevant wie Among Us. Es lässt uns am eigenen Leib erfahren, in welchem Verhältnis Wahrheit, Vermutung, Irrtum und Lüge zueinander stehen. Es zeigt uns, dass Fakten ohne einen Konsens über sie an Bedeutung verlieren. Es lässt uns aber nicht an diesen Problemen verzweifeln, sondern bietet uns eine performative Bühne, auf der wir gemeinsam lernen können, kommunikativ an Lösungen zu arbeiten.
In diesem Sinne durchzieht Among Us ein zutiefst soziales Spieldesign. Es schult und wappnet uns, es bereitet uns auf Gefahren vor und es zwingt uns trotz aller Widrigkeiten zur Zusammenarbeit. Egoistische Spielweisen gibt es nicht. Denn nur mit gemeinsamer Stimmabgabe lassen sich Imposter besiegen. Damit zeigt sich auch: Den Relativismus, den das Spiel mitunter vorzugeben scheint, gibt es eigentlich nur für jene, die Zwietracht säen. Für einen Konsens, der nicht aus dieser Zwietracht gespeist ist, gilt es wiederum zu kämpfen – und dafür braucht es die Augen, Ohren und den Verstand jedes Einzelnen.