Das Dilemma von Kunst und Existenz in Kazuo Ishiguros Never Let Me Go

Der vorliegende Text ist eine überarbeitete Fassung einer studentischen Arbeit.

 

“Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist“1

Walter Benjamin

Einleitung

Kazuo Ishiguros dystopischer Roman Never Let Me Go verhandelt eine ganze Reihe unterschiedlichster Themenkomplexe (Erinnerungen, Zeit, Nostalgie, Freiheit…), die allerlei analytische Perspektiven und Sichtweisen erlauben.  Ausgehend vom zentralen bioethischen Plot, der von einer Gesellschaft handelt, welche Klone für den Organgewinn und die damit einhergehende eigene Lebensverlängerung „heranzieht“, ermöglichen Form und Inhalt des Romans eine interessante Betrachtung der dilemmatischen und existentialistischen Rolle, welche die Kunst in der Geschichte einnimmt. Diesen Gedanken ausführend, beschreibt der folgende Text zum einen, in welcher Weise Never Let Me Go Kunst als Sinn- und Identitätsstiftendes Element inszeniert und zum anderen, inwiefern subjektbezogene existentialistische Gedanken zu Autonomie und Heteronomie dieses Verhältnis beeinflussen.

Erzählt wird die Geschichte von Never Let Me Go aus der Perspektive von Kathy – einem Klon, welcher in einer internatsähnlichen Einrichtung namens Hailsham zusammen mit ihren zwei besten Freunden, Ruth und Tommy, und weiteren Klonen aufgewachsen ist. Ausgelöst durch den baldigen Beginn ihrer “donations” (Organspenden) leitet der Plot mit Kathys Reminiszierung verschiedenster Phasen ihres Lebens ein. Sie ist nur einer von vielen Klonen, welcher in diesen besonderen Einrichtungen lediglich so lange aufgezogen werden, bis sie körperlich dazu bereit sind, ihre Organe Stück für Stück einer privilegierteren Gesellschaft zu spenden. Trotz des dystopischen Untertons kreiert der Roman keinen offenkundig ausgetragenen Konflikt zwischen verschiedenen Gruppierungen einer in Schieflage geratenen Gesellschaft. Die Ausgangslage wird stattdessen dafür genutzt, um eine „existential tale about the inescapable confines of human death“2 zu erzählen.

Kunst im Dilemma I: Kreativität als pädagogisches Dogma   

Dieser fundamentale existentialistische Gedanke, der sich durch den ganzen Roman zieht, führt, in Verbund mit dem ebenfalls starken Bezug auf Kunst und künstlerisches Schaffen, zu einem inhärent dilemmatischem Verhältnis. Die Herstellung von Kunst und das Feld der Kreativität im Allgemeinen spielen in der pädagogischen Erziehung der SchülerInnen Hailshams in Kathys Erzählung eine ganz besondere Rolle. Der erste Konflikt, der Bezug auf dieses Verhältnis nimmt, realisiert sich durch die Figur Tommy. Dieser widerspricht den sozialen Normen und steht zu Beginn der Erzählung in einem schmerzhaften Verhältnis zu seinem eigenen kreativen Talent und Schaffen.

Im Laufe der Geschichte werden den SchülerInnen in regelmäßigen Abständen die eigens erschaffenen Kunstwerke entzogen und, wie sich gegen Ende des Romans herausstellt, in einer – von den SchülerInnen schon gerüchtehalber theoretisierten – Galerie ausgestellt. Der Zweck dieser Galerie stellt sich als Versuch heraus, jenem Teil der Gesellschaft, welcher von der “Organzucht” profitiert, die Existenz einer Seele in den zu Ausbeutungszwecken kreierten Lebewesen vor Augen zu führen. Die Verfahrensweise der Einbettung von Kunst innerhalb der Erziehung der Klone spiegelt nicht nur deren späteres Leben als Organspendender3 wieder, sondern veranschaulicht laut Black auch „the problems that arise when art becomes a governing ideological force“.4

Kunst im Dilemma II: Adaption einer institutionell-kapitalistischen Marktlogik

Kunst wird in Never Let Me Go als Konfliktherd und als inhärent dilemmatisch dargestellt und dient zum einen als wichtiges Element der Identitätsbildung und zum anderen als Reflektion einer externen systematischen Institutionalisierung die sich einer kapitalistischen Verwertungslogik unterordnet. Ein Paradebeispiel für den institutionellen Umgang mit Kunst sind die Kunst-“Exchanges” und -“Sales” in Hailsham. Die Kunstwerke, welche die SchülerInnen für erstere einreichen, werden von ihren ‘guardians’ bewertet, welche dann entscheiden „how many [tokens] [their] particular masterpiece merited“ und welche diese dann anschließend mit sogenannten “Exchange Tokens” auszeichnen, mit denen die SchülerInnen andere Kunstwerke ihrer Peers erwerben können.5 Es lässt sich hier zum einen konstatieren, dass diese Art der Aufsicht und Kontrolle der Kunstproduktion sich eines gleichermaßen hierarchischen wie auch kapitalistischen Bezugssystems bedient, welches das gesamte Feld der kreativen Leistungen der Anwohner Hailshams vereinnahmt. Dieses System führt schließlich unweigerlich dazu, eine Atmosphäre zu erzeugen, in der jene, die mit ihrer eigenen Beziehung zum kreativen Schaffen zu kämpfen haben – wie beispielsweise der bereits erwähnte Tommy – kritisch beäugt werden. Dieser wird folglich von anderen schikaniert und in einer abwertenden Weise wahrgenommen. Seine – temporär beschränkte – Katharsis erfährt dieser erst in der Ablehnung jener scheinbar alternativlosen, extern manifestierten Weltanschauung der Kreativität als ultimatives Lebens-Paradigma.

Kunst im Dilemma III: Vom uneingelösten Versprechen autonomer Gleichbehandlung

Zum anderen spiegelt sich die Idee des Dilemmas in der Art und Weise wider, in der das Verhältnis von Kunst und Autonomie in Bezug auf die Exchanges dargestellt wird. Während diese in einer Weise durchgeführt werden, die die SchülerInnen glauben lässt, dass sie als gleichberechtigte Subjekte behandelt werden,  „[who] partake in a real exchange“, ist es gleichermaßen so, dass sie im größeren Kontext als Klone in einem asymmetrischen Verhältnis zu ihren menschlichen “Ausbeutern” stehen: “[They] will recieve no one else’s organs to replace the ones they eventually donate“.6

Zusätzlich der vierteljährlich stattfindenden Exchanges dürfen die SchülerInnen Hailshams bei den sogenannten Sales teilnehmen, deren Ökonomie Black folgendermaßen beschreibt: „[T]he Sales mask a donation economy within the guise of egalitarian circulation”.7 Zum einen aufgrund der Tatsache, dass sich die Waren, welche ihnen hier zugänglich gemacht werden als „usually […] a big disappointment“8 herausstellen, und zum anderen, da, aufgrund der Tatsache, dass sie mit ihren Exchange Tokens bezahlen müssen: „[A]ny actual monetary exchange is only a formality“.7 Im Vergleich zu den als unbeschwert beschriebenen Exchanges, scheint die Atmosphäre während der Sales eine ganz andere, rauere zu sein:

“The Sales were a complete contrast to the hushed atmosphere of the Exchanges. They were held in the Dining Hall, and were crowded and noisy. In fact the pushing and shouting was all part of the fun, and they stayed for the most part pretty goodhumoured. Except, as I say, every now and then, things would get out of hand, with students grabbing and tugging, sometimes fighting”9

Auch wenn das “pushing and shouting” als “pretty goodhumoured”10 beschrieben wird, können die dargestellten Effekte, welche sich in problematischer Weise aufgrund der Hailsham-Policy der Exchanges und Sales auf die SchülerInnen niederschlägt, nicht außer Acht gelassen werden. Die Artikel, die für die Sales nach Hailsham gebracht wurden, und welche sich als eher unpersönliche, massenproduzierte Waren herausstellen, sorgen für eine Atmosphäre des konsumistischen Wettkampfes, welches „grabbing and tugging, sometimes fighting“ inkludiert. Der Gedanke, dass im Gegensatz dazu die Exchanges ein Bild von Kunst und von kulturellem Wert propagiert, welches sich stärker durch eine individualistische und autonome Selbst-Bestimmtheit auszeichnet, stellt sich allerdings ebenfalls als Fehlschluss heraus. Das lässt sich in mehrfacher Weise identifizieren. Kathy kommt zum Schluss: „The Exchanges, with their system of tokens as currency, had given us a keen eye for pricing up anything we produced”.11 Diese Aussage konfrontiert uns mit dem fundamental fehlgeleiteten Versuch der Hailsham-Institution, die Lage der Klone damit zu verbessern, der Gesellschaft deren kreatives und künstlerisches Verständnis darzulegen – ein Verständnis, dessen Zuschreibung augenscheinlich nur jenen Lebewesen Vorbehalten ist, die sich durch ihre Seele und damit ihr Menschsein auszeichnen.

Kunst im Dilemma IV: Kulturindustrie und das gescheiterte humanistische Programm

Während zum einen der Versuch unternommen wird, diese „reine“ und stark autonomie-gebundene Essenz der Kunstschaffung zu lehren und zu evozieren, projiziert Hailsham in Wahrheit eine ausbeuterische und kapitalistische Idee von Kunst und Kultur auf seine BewohnerInnen, die in Ansätzen mit Adornos und Horkheimers Vorstellung der Kulturindustrie12 in Verbindung zu bringen ist. Das von Kathy erwähnte „pricing up“ der von ihnen produzierten Kunstwerke kulminiert an einem Punkt der Geschichte mit der Tatsache, dass ihnen ihre guardians in regelmäßigen Abständen jene Kunstwerke wegnehmen, denen ein besonderer Wert zugesprochen wird, um diese in der bereits angesprochenen Galerie der breiteren Gesellschaft auszustellen. Kathy beschreibt diesen entstehenden Konflikt, in dem SchülerInnen, deren Kunstwerke (aus dem ökonomischen Zyklus Hailshams) entnommen wurden, eine Entschädigung in Form von tokens forderten, als „token controversy“. Diese endete schließlich damit, dass die entsprechenden SchülerInnen „tokens, but not many“ erhielten, „because it was a ‚most distinguished honour‘ to have work selected by Madame“.13 Abermals positioniert dies die Klone ins Zentrum eines inhärent dilemmatischen Systems. Ein System, in welchem gewisse Dinge erzählt und gewisse Dinge nicht erzählt werden – wie Kathy an einem Punkt feststellt – und ein System, welches auf der einen Seite bestimmte Dinge beibringt und abverlangt, dies auf der anderen Seite allerdings in inkompletter und mangelhafter Weise vollzieht:

„Allein ihrem eigenen Formgesetzt gehorchend, stellt sie [Kunst] sich gegen die durch Tausch und Profit ‘verhexte Wirklichkeit‘ […] soweit von Kunstwerken eine gesellschaftliche Funktion sich prädizieren läßt, ist es ihre Funktionslosigkeit“14

Die Kunst in Hailsham zielt auf einer oberflächlichen Ebene darauf ab, den SchülerInnen diesen autonomen und unkorrumpierten Umgang nahe zu bringen. Jener ist es schließlich, der mit Hilfe der Galerien der Welt präsentiert werden soll – doch letztendlich finden sich die Klone in einem System wieder, welches sie in der bereits dargestellten Verwertungslogik einspannt. Letztendlich entpuppt sich die Vorstellung, eine breitere Gesellschaft von einer (den Menschen ebenwürdigen) Tolerierbarkeit der Klone zu überzeugen, indem diese in ein institutionalisiertes System zwanghafter Kreativitätsparadigmen gespannt werden, um deren Menschlichkeit unter Beweis zu stellen, als non-humanistisch.15 Ein tatsächlicher Individualismus, der sich von diesen Paradigmen (welche von ihren guardians als einzige Chance zur Verbesserung der Lage der Klone angesehen werden) abzusetzen versucht, wird dadurch aktiv unterdrückt.

Existentialismus und Reminiszenz I: Die Kraft der Nostalgie

Interessanterweise wird dieses Dilemma des Autonomieproblems im institutionalisierten Leben der Klone von Kathy und den anderen SchülerInnen Hailshams aktiv angesprochen. Dies macht sich am Deutlichsten in den persönlichen Sammlungen von persönlichen Gegenständen bemerkbar, die sie während der Exchanges und Sales erwerben. Durch jene persönlichen Objekte, ihre ganz eigene Sammlung, welche sie in einer eigenen Truhe (“This innermost space may be symbolic of our recollection of an inner self. In such a box or casket, one’s memorabilia are kept. Enclosures such as these drawers or chests are like organs of some secret life and may serve as ‘models of our intimacy with self or others”16 in ihrem Zimmer bewahren, ist es den Klonen – allen voran Kathy – möglich, persönliche, wirkmächtige Bindungen und kraftvolle Erinnerungen zu generieren, welche ihnen erlauben, im Angesicht ihres verkürzten Lebens Nostalgie zu empfinden.17 Diese Essenz der individuellen Verfügbarkeit beginnt mit der Auswahl der Kunstwerke, welche sie in den Exchanges und Sales erwerben und macht sich weitergehend bemerkbar in der persönlichen Sinnzuschreibung und die dadurch erschaffenen nostalgischen Erinnerungen. Diese losgetretene Kraft des individualistischen Rückerinnerns, deren Ursprung Kathy im Umgang mit ihrer persönlichen Sammlung verortet, mündet schließlich in den mächtigen Reminiszenzen von den Erfahrungen mit ihren zwei besten Freunde und deren gemeinsamen Erinnerungen. Um es mit Kathys eigenen Worten, kurz vor Ende des Romans zu sagen: „I lost Ruth, then I lost Tommy, but I won’t lose my memories of them“.18

Existentialismus und Reminiszenz II: Aufbruch singulärer Fremdbestimmtheit durch innere Autonomie

Die Möglichkeit der introspektiven Flucht vor und Abwehr von der unausweichlichen Vorbestimmtheit ihres Lebens macht sich ebenfalls im Sub-Plot von Kathy und ihrem Tape von Judy Bridgewater bemerkbar. Im Roman stößt sie während einem der Sales auf dieses und entwickelt schnell eine sehr emotionale Bindung zum Lied Never Let Me Go. Während sie den Song – und vor allem den Refrain – immer wieder anhört, entwirft sie für sich selbst eine ganz eigene Interpretation der Zeilen: “I just waited for the bit that went: ‘Baby, baby, never let me go…’ And what I’d imagine was a woman who’d been told she couldn’t have babies, who really, really wanted them all her life”19. Auch wenn sie sich letztendlich eingesteht, ihre Interpretation “couldn’t be right“, kommt sie für sich selbst zum Schluss: „The Song was about what I said“.19

Der metaphorische Ausbruch aus der sonst willenlos akzeptierten, von externen Mächten proponierten Realität und Faktizität wird hier durch die subjektive Deutungsmacht der Interpretation dargestellt. Diese Emanzipation von der singulären Bedeutung hin zur einer Multiplizierung der Expressivität ermöglicht ihr, eine immens starke emotionale Verbindung herzustellen. Kathys Erlebnis lässt sich als Reflektion des Dilemmas betrachten, in dem sich die Klone wiederfinden. Gefangen in einem System, das ihnen keinen Widerstand ermöglicht und sie zudem zur willenlosen Hinnahme ihrer eigenen Unentrinnbarkeit erzieht, erweisen sich Kathys Interpretationen als Beweis der Unaufhaltbarkeit der eigenen Gedankenwelt und Vorstellungskraft. Selbst in einem institutionalisierten System, das scheinbar keinerlei Ausbrüche ermöglicht – was sich besonders im finalen Aufeinandertreffen mit ihren ehemaligen guardians bemerkbar macht – schafft es Kathy, sich ihre introspektive Selbstbestimmung und ihr nostalgisches Erinnerungsvermögen zu bewahren, die ihr im Angesicht ihres eigenen Schicksal helfen.

Identität I: Subjektive Sinnzuschreibung und die Rolle des Materiellen

Während ihrer Zeit in Hailsham verliert Kathy ihr Tape von Judy Bridgewater, findet allerdings viel später eine (vermeintlich) andere Kopie, als sie in den sogenannten Cottages ein augenscheinlich autonomeres Leben führen, bevor sie schließlich zu “carers” und “donors” werden. Bei einem narrativ hervorzuhebenden Trip nach Norfolk – „England’s ‘lost corner’“20 – machen sich Tommy und Kathy auf, um ihr verlorenes Tape wiederzufinden. Interessanterweise finden sie es ausgerechnet in einem Second-Hand-Laden, nachdem sie zuvor bereits erfolglos einen gewöhnlichen Musikladen durchsucht hatten: „That Woolworth’s shop earlier, it had all these tapes, so I thought they were bound to have yours. But I don’t think they did”.21

Dass es sich ausgerechnet um einen Second-Hand-Laden handelt, in dem sie ihr Tape wiederfindet – und damit zudem die Erkenntnis, dass es ihr nicht um den Gegenstand, sondern die damit verbundene Erinnerungswürdigkeit geht – spiegelt nicht nur die Situation der Klone wieder, die “recyclet” und für andere Menschen wiederverwendet werden, sondern kann auch als impliziter Kommentar einer kapitalistischen Kulturindustrie gelesen werden: Der Ort, der massenproduzierte Kulturgüter bereitstellt und eine kapitalistische Denkweise ausstrahlt (namentlich ein Woolworth, in dem Tommy das Tape vergeblich sucht), beherbergt für beide nicht die gleiche Erkenntnis und das gleiche Gefühl einer internen Autonomie und Befreiung wie das persönlichere und individualistischere Second-Hand-Geschäft, das bereits inhärent ein Gefühl von geteilter Memorabilia sowie Vergangenheit verkörpert. Um den Einfluss dieser Erfahrung für Kathy mit den Worten von Rizq zusammenzufassen: „Its [the tape’s] value lies not in its origins but in how it can be used creatively to develop and add substance to her [Kathy’s] own identity, her own memories and her own self-narrative“.22

Identität II: Ein Leben ohne Kontext – Entkopplung von Vergangenheit und Zukunft

Das Kennenlernen der eigenen Lebensrealität und Identität, so lässt sich festhalten, spielt im Leben der Klone eine essentielle Rolle. Dies macht sich in den Gerüchten über die “possibles” bemerkbar, womit jene Menschen gemeint sind, von deren Erbgut die Klone angeblich jeweils abstammen. Da die Klone – abseits von ihren guardians in Hailsham – keine Vater- oder Mutterfiguren haben, träumen und theoretisieren diese über die possibles nicht nur als Beweise für individuelle Erbschaft und nachvollziehbare Vergangenheit, sondern auch als Vorlage für ihre eigene persönliche Entwicklung und Zukunft. Diese erträumte Zukunft macht sich vor allem in der Figur Ruth bemerkbar. Als diese, Tommy, Kathy und zwei weitere Klone während ihrer Zeit in den Cottages Norfolk besuchen, um Ruths possible – eine Frau, die in einem nett aussehenden Büro arbeitet – zu finden, werden sie unweigerlich mit der Kurzsichtigkeit ihres eigenen Plans konfrontiert. Während sie der als possible vermuteten Frau unauffällig bis in eine Galerie hinterherlaufen, kommen sie zur Erkenntnis, dass sie Ruth in dieser nicht wiedererkennen.

Im Laufe des Romans werden die Klone immer wieder mit dem Dilemma ihrer eigenen Identität konfrontiert, welches inhärent die Schwierigkeiten ihres Lebens verkörpert:

“They are faced with the task of living a life in which they feel they have mislaid their origins and, in these circumstances, the ‘fictive pretext’ of the ‘possible’ is retained in order to sustain the notion that there was such an original: to maintain the idea that they are predicated on something – someone – with a more ontologically valuable interior, perhaps, that would render them more ‘real’, more significant in the world’s eyes”23

Identität III: Massenmedien als Vorbild

Aufgrund ihres Mangels an Zugehörigkeitsgefühlen und Klarheit bezüglich ihrer Identität erschaffen sie nicht nur das Model der possibles, sondern suchen auch in Massenmedien nach adaptierbaren Lebenskonzepten und Habitus. „She [Ruth] takes the idea [of a possible that might have been the model for her] from mass media-produced sources such as TV soap operas and advertisements from billboards and magazines“.24 Dieser Vorgang des Kopierens und Adaptierens von medialen Inhalten für die eigene Identitätsformation fällt Kathy an einem Punkt während ihrer Zeit in den Cottages auf: „There was, incidentally, something I noticed about these veteran couples at the Cottages […] and this was how so many of their mannerisms were copied from the television”.25 26 Auf die Bedeutung der Kopie in Bezug auf das Leben der Klone und ihrem existentiellem Dilemma bezieht sich auch Rizq: „What are the value and meaning of a life that has lost its origins? […] And can there be […] anything unique and distinctive within the child who is only a copy?”.27 Dies beschreibt trefflich die allgegenwärtigen Identifikations- und Identitätsprobleme in welchen sich die Klone gefangen sehen.

Schlussbetrachtung I: Die antagonistische Disparität von Autonomie und Heteronomie

Als Klon in der Welt von Never Let Me Go zu leben erfordert die stillschweigende Duldung stark heteronom geprägter, regelbasierter Systeme. Im Denken von Kathy und ihren Freunden lässt sich bezüglich dieser Grenzen setzenden Regelbasiertheit und alternativlosen  Unentrinnbarkeit eine gewisse „Indoktrination“ erkennen.28 Der Aspekt der Unentrinnbarkeit wird zudem in einer Weise vermittelt, die die Lesenden selbst involviert, indem diese die Rolle eines imaginierten Klons annehmen und aus derlei Perspektive die beschriebene Figurenentwicklung und die Möglichkeit einer – letztendlich – persönlichen Autonomie innerhalb eines Systems nachempfinden, das sich zugleich als “endgültig” und als unsichtbare, ungreifbare Nemesis entpuppt: „The relation of power in which the clones find themselves are not dominated by a sovereign figure or an authoritarian regime, but rather reflect the Foucauldian nature of power as dispersed and myriad“.29 Diese “zerstreute” Macht, die in einer vollständigen didaktisch anerzogenen Institutionalisierung mündet, beschreibt Currie wie folgt: „In Never Let Me Go, Hailsham is exactly this kind of total institution: an elaborate system of prohibitions and privileges, of constraints upon and opportunities for personal expression”.30

Diese antagonistische Disparität von Autonomie und Heteronomie durchdringt den Roman und definiert dessen Figuren zutiefst. Während eine Flucht im weitesten Sinne unerreichbar ist, – letztendlich veranschaulicht im finalen Aufeinandertreffen mit Emily und Madam, ihre ehemaligen guardians in Hailsham, die von ihrem fehlgeschlagenen Plan erzählen, die Rechte und Lebensbedingungen der Klone dauerhaft zu verbessern – lässt sich die tatsächlich stattfindende Emanzipation, der wahre “Ausbruch” auf der individuellen und persönlichen Ebene beobachten. Der Plan der Hailsham-Einrichtung schlug auf der angedachten Ebene letztendlich zwar fehl, kann allerdings gleichzeitig als dilemmatischer Erfolg auf einer anderen verbucht werden.

Was laut Emily den Status der Klone in der Gesellschaft  letztendlich verschlechtert hatte, war die wachsende Angst einer möglichen Überlegenheit und Übermacht der Klone. Lochner beschreibt das ambivalente Verhältnis zu den Klonen unter Hervorhebung der „irony of the view that the clones are ‘less than human’, as they are exact genetic copies of humans, and furthermore, the world apparently has to actively suppress this knowledge – by not thinking about the clones, or by considering them members of a ‘genetic underclass’ – to continue with the donation programme”.31 Parallel zum erwähnten “kollektiven Vergessen” des “donation programme”, definiert sich die Rolle der Klone durch das Gefangensein zwischen Wissen und Unwissen, angestrebter Autonomie und zwangsläufiger Heteronomie: „[W]hile it [the Hailsham project] was supposed to prepare them for the encounter with the outside world, it also shielded them from that world and its perceptions to the extent that they do not understand the nature and the implications of their differences”.32 

Schlussbetrachtung II: Gleichzeitiges Versagen und Gelingen eines Humanismus

Auch wenn die Bemühungen, die “Seele” der Klone an die Oberfläche zu bringen und zur Schau zu stellen, indem diese zur Kunstproduktion gedrängt werden, nicht erfolgreich waren, reflektiert Kathys persönliche Historie eine Lebensführung, die ihr durch die Befähigung zur individuellen Sinnzuschreibung und zu einer innerlichen Autonomie ein Gefühl von Stärke und Würde33 im Angesicht der Machtlosigkeit verleiht. Ishiguros Roman, welcher letztendlich Kathys Roman ist, überlässt die Verfügung über das Schicksal von Kathy und den Ihren schlussendlich den Rezipienten. Denn trotz der institutionell gehandhabten “Massenproduktion” von Kunst in Hailsham sind es letztendlich die kollektiven und zugleich individuellen und autonomen Erinnerungen von Kathys Leben, die als das denkbar machtvollste Oeuvre für die Rechte der Spezies Klon einstehen. Diese Erinnerungen inkludieren die Essenz dessen, was Kathy in Angesicht der ihr ausgesetzten Ungerechtigkeiten Stärke empfinden ließ. Diese Essenz ist es, die ein humanistisch-empathisches Verständnis erschafft, das auf schmerzhafte Weise vor Augen führt, worin Hailsham gescheitert ist, und doch gleichzeitig erfolgreich war.

 

Disclaimer: Dieser Text basiert auf einer ursprünglich in englischer Sprache verfassten, universitären Studienarbeit.


 

Bibliographie

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Black, Shameem. “Ishiguro’s Inhuman Aesthetics”. Modern Fiction Studies. Vol. 55. Issue 4.
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Currie, Mark. “Controlling Time: Never Let Me Go”. Kazuo Ishiguro: Contemporary Critical
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Lochner, Liana. “‘How dare you claim these children are anything less than fully human?’: The
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Teo, Yugin. “Memory, Nostalgia and Recognition in Ishiguro’s Work”. Kazuo Ishiguro in a
Global Context. Ed. Cynthia F. Wong und Hülya Yildiz. Farnham [et al.]:Ashgate, 2015.
39–47

  1. Benjamin 2017, 63 []
  2. Dzhumaylo 2015, 91 []
  3. Die vierteljährlich stattfindenden Kunst-“Exchanges” während ihrer Zeit in Hailsham können als Spiegelung der vier Organspenden der Klone angesehen werden, die diese durchlaufen, ehe sie “abschließen” (engl. ‘complete) und damit sterben (insofern sie die vorigen Operationen überhaupt überlebt haben) (Ishiguro 2016, 22). []
  4. Black 2009, 793 []
  5. Ishiguro 2016, 22 []
  6. Black 2009, 795-796 []
  7. Black 2009, 796 [] []
  8. Ishiguro 48 []
  9. Ishiguro 2016, 49 []
  10. Hierbei muss beachtet werden, dass Kathys Perspektive Elemente der Verzerrung und der unzuverlässigen Erzählung enthält. Inhaltlich ergibt sich dies durch die Eingliederung in ein System, das die Klone bewusst desinformiert. Gleichzeitig gibt Kathy selbst zu, dass ihre Erinnerungen mitunter lückenhaft seien könnten (Ishiguro 2016, 88+14). []
  11. Ishiguro 2016, 45 []
  12. “Während heute in der materiellen Produktion der Mechanismus von Angebot und Nachfrage sich zersetzt, wirkt er im Überbau als Kontrolle zugunsten der Herrschenden. […] Die kapitalistische Produktion hält sie mit Leib und Seele so eingeschlossen, dass sie dem, was ihnen geboten wird, widerstandslos verfallen” (Dialektik der Aufklärung 2017, 141-142). []
  13. Ishiguro 2016, 47 []
  14. qtd. in Müller-Jentsch 2012, 22 []
  15. Die humanistische Seinskrise der Klone beschreibt Black folgendermaßen: “Abandoning the need for fidelity to the original, in Ishiguro’s world, would mean two paradoxical things: it would free the students from their imperative to serve the biomedical needs of their own originals, thus liberating them from subservience to the category of ‘human,’ while it would also allow them to celebrate openly their own identity as copy, as inhuman” (Black 2009, 802). []
  16. qtd. in Dzhumaylo 2015, 95 []
  17. Teo 2015, 43 []
  18. Ishiguro 2016, 298 []
  19. Ishiguro 2016, 77 [] []
  20. Ishiguro 2016, 73 []
  21. Ishiguro 2016, 180 []
  22. Rizq 2014, 529 []
  23. Rizq 2014, 525 []
  24. Dzhumaylo 2015, 94 []
  25. “In den nach Schnittmustern von Magazinumschlägen konfektionierten Gesichtern der Filmhelden und Privatpersonen zergeht ein Schein, an den ohnehin keiner mehr glaubt, und die Liebe zu jenen Heldenmodellen nähert sich von der geheimen Befriedigung darüber, daß man endlich der Anstrengung der Individuation durch die freilich atemlosere der Nachahmung enthoben sei” (Horkheimer und Adorno 2017, 164-165). []
  26. Ishiguro 2016, 129 []
  27. Rizq 2014, 526 []
  28. Beispiele für regelhaftes Denken: Ishiguro 2016, 46-47, 52+65, 90-91 []
  29. Lochner 2015, 107 []
  30. Currie 2009, 12 []
  31. Lochner 2015, 103-104 []
  32. Lochner 2015, 103 []
  33. “Kathy’s demise and our own deaths as well can also become triumphs of personal integrity over societal cruelty and historical accident” (Abrams 2016, 45). []

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