Das Schlendern der anderen: Wie mir virtuelle Spaziergänge 2020 erträglicher machten

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2020 war ein gesellschaftlich seltsames Jahr und ein psychisch umso anstrengenderes für all diejenigen, die Schwierigkeiten damit hatten, dem anhaltenden Sog der unendlichfach wiedergekäuten Negativ-Schlagzeilen zu entkommen. Dieses Phänomen der mental belastenden Berieselung ist mittlerweile derart präsent in der Netzkultur, dass sogar ein eigener Begriff dafür kreiert wurde: „Doomscrolling“. Um sich von diesem Doomscrolling und den damit verbundenen kognitiven Verzerrungen loszumachen, sind individuelle Techniken der Ablenkung von Nöten; für die eine Person mag dies ein ausuferndes Sportprogramm sein, für andere wiederum das Musizieren, für wieder andere die Beschäftigung mit Videospielen. So unterschiedlich die Menschen, so verschieden die Methoden für geistige Abkühlung.

Schnitt. Wir befinden uns im Frühjahr 2020: Auf meinem virtuellen Schreibtisch verwaist gerade eine halbangefangene Hausarbeit, die es fertig zu stellen gilt. Die Motivation allerdings ist an einem Tiefpunkt angelangt, die Konzentration ebenfalls im Keller. Während ich auf YouTube vor mich her prokrastiniere, stoße ich auf ein Video-Genre, das ich zwar bereits das ein oder andere Mal peripher wahrgenommen habe, dessen tatsächlicher Schatz sich mir aber erst in diesem Moment zu erschließen beginnt. Die Rede ist von ASMR-Spaziergängen. Und ja – es geht hier tatsächlich um Videos, in denen Menschen einfach nur durch die Gegend laufen. Unkommentiert und ungeschnitten.

ASMR: Ein Phänomen zwischen Mainstream und Nische

In der kurzlebigen Zeit des Internets ist ASMR mittlerweile fast schon wieder ein alter Hut. Dennoch genießt es in der Öffentlichkeit einen ausgesprochen zwiegespaltenen Ruf und fristet ein seltsames Dasein zwischen Massenphänomen und Nische. Die Autonomous Sensory Meridian Response (so der ausgeschriebene Name) beschreibt ein angenehm kribbelndes und entspannendes Gefühl, das sich beim Schauen entsprechender Inhalte am Körper bemerkbar macht.

ASMR-Videos bestehen in der Regel aus sehr markanten, mehr oder weniger alltäglichen Geräuschen – beispielsweise dem sanften Klopfen auf Holz oder Glas, dem Aneinanderreiben von Händen, oder dem Schütteln einer mit Wasser gefüllten Flasche. Ikonisch für ASMR ist auch der flüsternde Tonfall, in dem üblicherweise gesprochen wird. Um auch feinere Geräusche wahrnehmen zu können und um dem ganzen noch ein Gefühl von Räumlichkeit zu verpassen, werden die Videos außerdem oftmals von leistungsstarken binauralen (also stereofähigen) Mikrophonen aufgenommen.

Wie jedes erfolgreiche Internetphänomen hat sich auch ASMR mit der Zeit enorm stratifiziert und in diverse Subkategorien gegliedert. Manche ASMRtists (ja, das ist tatsächlich ein Begriff aus der Szene) fokussieren sich auf ganz bestimmte audiovisuelle Trigger, andere stecken viel Kreativität in aufwändig inszenierte Rollenspiele, ganz andere essen vor dem Mikrofon und erreichen allein damit Millionen von Zuschauern. Ob das noch als Social Eating zählt, wage ich allerdings nicht zu beantworten. Mit letzterem Trend kann ich selbst nichts anfangen, aber da hier ja niemand geshamed werden soll, lautet die Devise natürlich, dass einfach jeder mit dem ASMR-Stil glücklich werden soll, der am meisten für Freude und Entspannung sorgt.

So absurd ASMR auf manche Außenstehende auch wirken mag; es ist ein reales Phänomen, das von vielen Menschen erlebt und sogar wissenschaftlich erforscht wird. Die Form, die ASMR annimmt, ist irgendwo zwischen Achtsamkeitsübung und Videokunst anzusiedeln. Gerade weil es im Kern darum geht, geistig-körperliche Entspannung zu erfahren, nehmen die Inhalte so unterschiedliche Formen an. Denn, wie bereits im beinahe gleichen Wortlaut festgehalten: So verschieden die Menschen, so unterschiedlich die Trigger, die zur mentalen Erholung führen. Sobald man merkt, dass es anfängt zu wirken, stellt man sich auch nicht mehr ganz so prägnant die Frage nach dem Warum, sondern nimmt es ein Stück weit hin, dass eben jene geschüttelte Wasserflasche oder abgeklopfte Holzoberfläche für mentale Abkühlung sorgen.

Dem Spaziergang auf der Spur I: Real-Life WAlking SiMulatoR

Nach dieser Vorrede ist es vielleicht auch gar nicht mehr so schwierig, nachzuvollziehen, wieso auch stumme Spaziergänge zu einer solchen Entspannung führen können. Die ASMR-Komponente setzt sich hier meiner Ansicht nach aus zwei Dingen zusammen: (1) Aus einer speziellen audiovisuellen Geräuschkulisse, die irgendwann nur noch als white noise wahrgenommen wird, (2) und aus einer geradezu meditativ gelenkten Fokussierung auf das Gezeigte, was ein Gefühl von innerer Ruhe vermittelt. Ersteres kommt natürlich durch die ungeplanten Hintergrundgeräusche zustande, die die Spaziergänge untermalen, Letzteres durch den unkommentierten und stoischen Gang, bei dem mitunter Erinnerungen zu der Sorte Spiel geweckt werden, die gerne mal als Walking Simulator bezeichnet wird.

Da ich Regengeräusche sehr mag (und ich damit sicher nicht der Einzige bin – schon die schiere Anzahl von ASMR-Videos mit Regenthematik dient dafür als Beweis), war es bei mir meist zusätzlich das Plätschern von Regentropfen auf Schirmen und die verregneten Abendkulissen, die mich in Entspannung gewogen haben. Aber an diesem Punkt einer rein akustischen Analyse kann die Reflektion über die ASMR-Spaziergänge nicht enden; denn aufgezeichnete Regengeräusche gibt es im Internet auch ohne dedizierte Verweise zu ASMR und Spaziergängen zuhauf, und dass diese Videos gerade in einer Zeit der Pandemie eine so starke Wirkung entfalteten, hat ganz sicherlich auch andere Gründe.

Dem Spaziergang auf der Spur II: Fernweh und Eskapismus

Ich war noch nie in Japan. Ich bin kein sonderlich reisebegeisterter Mensch, habe keine Bucket List mit fremden Ländern, die ich mir unbedingt noch ansehen will. Aber dem Land der futuristischen Toiletten und traditionsreichen Ramengerichte eines Tages mal einen Besuch abzustatten, ist schon etwas, das ich als einen Wunsch bezeichnen würde. 2020 stand die Welt allerdings – und damit auch der globale Verkehr – so still, wie schon lange nicht mehr. Der Einbruch der Reiseindustrie hatte wahrscheinlich auch seine guten Seiten: Er hat bewiesen, dass die weltweite Kommunikation, sei es auf Staats- oder Wirtschaftsebene, nicht plötzlich zusammenbricht, nur weil auf ständiges umweltschädliches Fliegen und Präsenzaufenthalte nicht verzichtet werden möchte. Auf der anderen Seite trennten die (berechtigten) Einschränkungen aber auch Familien- und Freundeskontakte, die über geographische Grenzen hinausgehen.

Zu diesen Dynamiken von fernen und unerreichbar anmutenden Zielen und Träumen nimmt das Internet seit jeher eine doppelte Position ein. Es ist zum einen das Fenster, das uns einen Blick in unsere eigenen Begierden öffnet, sucht zum anderen aber ständig nach Möglichkeiten, diese Begierden in stellvertretender Weise zu erfüllen. Fernweh gibt es online an jeder Ecke abzuholen; Videos über fremde Streetfood-Kulturen, Berichte über bürger:innenfreundliche Wohlfahrtspolitik anderer Länder, oder einfach nur eine herrliche fotografierte Aussicht auf Strände oder Berge, gegen die der Blick aus dem eigenen Fenster nur abstinken kann.

Wenn wir im Gefühl des Fernwehs vollends aufgehen und uns – wenn auch nur in stellvertretender Weise – verbunden fühlen wollen, schauen wir Livestreams von Menschen, die sich gerade am Ort unserer Begierde aufhalten, stöbern wir durch Videotagebücher, in denen Menschen akribisch einen uns fremden Alltag darstellen, und laufen bei Google Maps und Co. durch aufgezeichnete Geo-Daten, um selbst ein Gefühl für die Atmosphäre einer Gegend zu bekommen. Auch die ASMR-Spaziergänge reihen sich in diese Tradition ein und verbinden dabei das Empfinden von Fernweh mit einer meditativ entspannenden räumlichen Erfahrung. Das, was sich daraus ergibt, ist zwar auch nicht mehr als eine Illusion, allerdings prägt sich der Aspekt der Verbundenheit mit einem Ort auf ganz neue Weisen aus.

Der besondere Kniff der ASMR-Spaziergänge ist die prinzipielle Austauschbarkeit ihrer inhaltlichen Gestaltung. Das heißt, dass sie theoretisch zu jedem Zeitpunkt jeden Teil der Welt einfangen können, ohne dabei ihren Effekt zu verfehlen. Wenn ich mein Japan-Fernweh durch sie ausleben möchte, dann gibt es für mich etliche unterschiedliche und doch im Kern ähnliche aufgezeichnete Spaziergänge, mit denen ich das tun kann. Sicher ist gerade Japan ein beliebtes Reiseziel und deswegen besonders stark in diesem Genre vertreten, aber dennoch ist die generelle Bandbreite an verfügbarem Material zu weltweiten Örtlichkeiten ziemlich groß. Ich kann nur empfehlen, mal eine Suchanfrage mit einem Ort eurer Wahl zu starten.

Dem Spaziergang auf der Spur III: Gegen die soziale Einsamkeit und vereinsamte Stadtbilder

Obwohl es in diesem ASMR-Genre neben Videos von bekannten Großstädte auch eine Vielzahl von aufgezeichneten Spaziergängen durch menschenleere Natur gibt, waren es vor allem die Spaziergänge durchs Nachtleben Tokyos, die es mir angetan hatten. Je mehr Lichter und Menschenmassen, desto besser. Ich suchte irgendwann aktiv nach der Reizüberflutung, nach den überladenen Kreuzungen und sich gegenseitig ins Wort fallenden elektronischen Werbeslogans der Geschäfte, nach Menschengruppen, die quasselten, lachten, deren Gespräche lautstark aus Kneipen und Restaurants zu vernehmen war. Ironischerweise bin ich im „echten Leben“ nicht der Mensch, der auf all diese kognitiven und womöglich auch sozialen Überforderungen steht.

Aber die veränderten sozialen Verhaltensweisen im letzten Jahr und ihre Auswirkungen auf das städtische Leben hatten offenbar selbst mich – einen sozial und ausgehtechnisch ziemlich genügsamen Menschen – an einen Punkt gebracht, an dem sich das Verlangen in mir breit machte, das den aktuellen Status Quo am liebsten ins radikal Gegenteilige umschlagen wollte. Somit boten mir die Videos nicht nur meditative Entspannung durch ihr audiovisuelles white noise und eine eskapistische Form von Fernweh; sie versetzen mich auch in einen sozialen Illusionszustand, der mir das städtische Leben – gerade im Kontext einer weltweiten Pandemie – auf eine ungeahnte Weise näher brachte.

Noch steht das öffentliche Stadtleben hierzulande größtenteils still. Natürlich wird es wiederkommen, natürlich werden alte Gewohnheiten und Gefühle eine Rückkehr erleben. Gleichzeitig merken viele von uns in Darstellungen des alltäglichen Miteinanders auch neue Distanzen und Erfahrungen des Unwohlseins, zum Beispiel in Filmen und Serien, die inszenierte Aufnahmen von besonders zahlreichen und eng zusammenstehenden Menschenmassen zeigen.

Die aufgezeichneten Spaziergänge durchs überfüllte Tokyo machen hierzu unabsichtlich einen Gegendiskurs auf: Sie präsentieren ein Stadtbild, das einen Exzess des sozialen Lebens und der unvermeidbaren körperlichen Nähe zelebriert. Das Bild von zerstreuten Menschenmassen, so reizüberfordernd es auch wirken mag, strahlt dabei auch ein Gefühl von Geborgenheit aus. Die Menge, die sich hier in alle Richtungen verteilt, ist ein Ausdruck von Routine: Das Leben geht, wie man sprichwörtlich sagt, seinem gewohnten Gang nach – mit allen damit verbundenen Vor- und Nachteilen. Ein wenig mehr Planbarkeit und verlässliche Routine, die es möglich machen, die momentane Gefährdung und Eigenverantwortung jedes Einzelnen wieder ein Stück weit zurückzuschrauben; das ist etwas, das sich aktuell wohl viele wünschen, und auch mir geht es da nicht anders.

Und abschließend: Wer bin ich überhaupt, und wenn ja, wie viele?

All die bisher genannten Aspekte münden zwangsläufig im gleichen Punkt: Der besonderen Immersionsleistung der ASMR-Spaziergänge. Das Subjekt, das dabei eigentlich mit der Kamera kommentarlos unterwegs ist, wird zunehmend durchlässig und macht Platz für unser eigenes simuliertes Körpergefühl. Dabei helfen der ungeschnittene Gang und die daran ausgerichtete Sichtlinie der Kamera. Die Aufmerksamkeit wird nie auf bestimmte Randgeschehnisse gelenkt, die sich abseits dieser Ideallinie befinden.

Damit scheint der simulierte „Kopf“ durch seine Bewegungslosigkeit nur geringfügig autonom und verleiht uns das Gefühl, unsere eigene Aufmerksamkeit auf all die Details lenken zu können, die innerhalb unseres Sichtfelds erkennbar sind. Erst wenn die tatsächliche Person hinter der Kamera ihren Regenschirm unabsichtlich ins Sichtfeld schwenkt oder unerwartet einem anderen Menschen ausweichen muss, drängt sich ihre Subjektivität wieder in den Vordergrund und holt uns aus der Illusion zurück.

Dieses Spiel mit dem „Ich“, das sich in eine andere Zeit oder Umgebung versetzt, ist untrennbar verknüpft mit Eskapismus. Dass Erfahrungen von Achtsamkeit und ASMR zwangsläufig mit Eskapismus zusammenhängen müssen, würde ich jedoch nicht bejahen. Trotzdem beweisen die ASMR-Spaziergänge, wie sich beides vereinen lässt und dabei sogar hoffnungsvolle Gegendiskurse in Krisenzeiten eröffnet werden können.

Aber noch viel, viel wichtiger als all die akademische Gedankenmacherei ist, dass diese Videos ein Gegenprogramm zu all der momentanen Grübelei bieten: Der ASMR-Effekt der Spaziergänge beruhigt den Geist und fährt die Gedanken ein Stück weit runter. Zumindest wirkten sie bei mir auf diese Weise. Sie boten mir dabei zusätzlich etwas, dass mir Spaziergänge in meiner realen Umgebung nicht geben konnten, nämlich Eskapismus und der Wunsch nach der Rückkehr eines lebendigen Stadtbildes. Meine zu Beginn erwähnte Hausarbeit hab ich dann irgendwann doch noch fertig bekommen, aber am Zustand der Welt änderte sich erstmal wenig. Ich werde mich also wahrscheinlich auch in den kommenden Monaten irgendwann wieder ins digital konservierte Nachtleben Japans begehen. Und eines Tages hoffentlich auch ins echte.

Ein Kommentar

  1. Sehr nachvollziehbare Betrachtungen. Bei mir waren es (v.a. im „ersten Lockdown“) nicht ASMR-Medien, sondern 360°-Videos unter einer VR-Brille — Hong Kong, New York, London, Shanghai … möglichst große überfüllte Plätze für ein bisschen menschliches Engegefühl. Und ich merke zunehmend, dass ich das bald mal wieder machen muss -.-

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