Dieser Text beinhaltet Spoiler.
In der Abwendung von unserer komplexen, ausdifferenzierten Moderne lauert etwas seltsam Verführerisches. Als erzählerisches Motiv bricht die Entfremdung von der Zivilisation häufig durch einen Akt höherer Gewalt herein. Man denke an die Serie Lost, in der ein überstandener Flugzeugabsturz zum Ausgangspunkt für den Überlebenskampf auf einer Insel voller Mysterien wird, oder an den Roman Robinson Crusoe, der mit seiner Geschichte über den namensgebenden gestrandeten Helden das Genre der ‚Robinsonade‘ begründete: Der Konflikt zwischen dem von der Gesellschaft isolierten Menschen und der Ursprünglichkeit und Unverfügbarkeit der Natur wird hier zum zentralen Thema.
Man denke weiter an das Interesse für postapokalyptische Szenarien, beispielsweise in Videospielen wie der Fallout-Reihe oder in Zombie-Serien wie The Walking Dead, man denke an die Popularität von Survivalinhalten im Netz, oder auch an das Phänomen des Preppers, der sich auf den Zusammenbruch der gewohnten Ordnung vorbereitet. Das Individuum ist in diesen hyperneoliberalen Dystopien zunehmend auf sich allein gestellt, jegliche soziale Struktur existiert höchstens noch als brüchiges temporäres Konstrukt, das jederzeit wieder in seine Einzelteile zusammenfallen kann, oder in Formen der Rückbesinnung auf archaische und mitunter rabiate Praktiken.
In diese ‚post- oder neo-zivilisatorischen‘ Erzählungen reiht sich auch die Serie Yellowjackets des Senders Showtime ein. Die Geschichte handelt von einem Mädchenfußballteam aus New Jersey, das im Jahr 1996 während eines Fluges zu einem landesweiten Turnier über Kanada abstürzt. So weit so Lost. Erzählt wird die Serie nun aus zwei verschiedenen Zeitperspektiven: Eine davon behandelt die Ereignisse unmittelbar nach dem Crash, die andere setzt 25 Jahre später an und zeigt das Leben der geretteten und durch die Erfahrung spürbar geprägten Teammitglieder.
Das Spiel mit der Erwartungshaltung
Neben der Situation des Gestrandetseins zeichnet sich die ‚Survival‘-Erzählung oftmals auch durch einen Hang zum Mysteriösen und Unerforschten aus. Nicht nur der radikale zivilisatorische Bruch wird zur Gefahr, sondern auch das, was in der ‚Terra incognita‘, der man nun ausgeliefert ist, im Verborgenen lauert. Während der Mystery-Faktor bei Lost noch derart ausgereizt wurde, dass er bisweilen ins Absurde und sogar Göttlich-Religiöse abdriftete, schlägt Yellowjackets andere, subtilere Töne an.
Yellowjackets spielt bewusst mit Erwartungshaltungen, die durch Serien wie Lost konventionalisiert wurden, und auf die sich auch populäre Videospiele wie The Forest beziehen. Doch anstatt das Mysteriöse als reale Instanz in der Erzählung zu etablieren, dessen Ergründung zum zentralen Antrieb der Figuren wird, hat man es hier mit einer stetigen Unsicherheit zu tun. Gibt es tatsächlich eine nicht greifbare äußere Instanz höherer Gewalt, eine Übernatürlichkeit, die Einfluss auf die gestrandete Gruppe ausübt? Oder wird die Wahrnehmung der Zusehenden als auch die der Überlebenden schlicht getäuscht; im ersten Fall durch eine clevere Dekonstruktion von Konventionen, im zweiten Fall durch die Umdeutung und Umgestaltung einer traumatischen Situation mithilfe kultureller Praktiken der Sinnstiftung?
Die Serie wendet diese Fragen auf beide Erzählstränge an. In der Zeitlinie 25 Jahre nach dem Crash erfahren die Überlebten, dass Travis, einer der wenigen männlichen Figuren, die beim Flug dabei waren, ermordet wurde. Mehr noch: Sein lebloser Körper wurde in einer Art und Weise drapiert, die an ein Ritual erinnert. Gleichzeitig erleben Shauna, Natalie, Taissa und Misty, wie einige Menschen hartnäckig versuchen, die Geretteten dazu zu bringen, ihre nicht erzählten Erlebnisse aus der Wildnis mit der Welt zu teilen. Ein Erpresserschreiben, das die Gruppe erreicht, führt schließlich dazu, dass Shauna, die aus dem Unglück ihrer Ehe heraus eine Liebschaft mit einem jüngeren Mann anfängt, diesen irrtümlicherweise der Tat und des versuchten Diebstahls ihrer Geheimnisse beschuldigt, und im Wahn ersticht. Die gewitterte Verschwörung bricht daraufhin in sich zusammen, auch wenn sie bis zu diesem Zeitpunkt sowohl den Zusehenden als auch den Figuren als glaubhafte Lösung präsentiert wurde.
Ein weiterer Plot, der in eine ähnliche Richtung geht, betrifft Taissa, die 25 Jahre nach dem Absturz dabei gezeigt wird, wie sie gerade für den Senat in New Jersey kandidiert. Sohn Sammy, den sie gemeinsam mit ihrer Frau Simone großzieht, benimmt sich eigenartig: Er zeichnet verstörende Bilder, spricht von einer Frau im Baum, wirkt bisweilen seltsam apathisch. Was zu Beginn noch auf eine Art Besessenheit des Sohnes mutmaßen lässt, die irgendwas mit den Erlebnissen von Taissa zu tun haben könnte, entpuppt sich im Laufe der Staffel als ein weiterer roter Hering: Nichts Übernatürliches haftet Sammy oder seine Mutter an, jedoch leidet sie an extremen Schlafwandelschüben, die sie nachts in ein bestialisches, ritualistisch erscheinendes Verhalten verfallen lassen und sogar bis auf den Baum vor Sammys Schlafzimmer treiben.
Ritualismus und Opfergaben
Ritualistisches Handeln findet sich auch vielerorts im Erzählstrang, der über die direkten Folgen des Absturzes berichtet. Während einer Séance, die die Spielerinnen im Dachgeschoss einer im Wald verborgenen Hütte abhalten, gerät die Figur Lottie unverhofft und nachhaltig in den Mittelpunkt der Gruppe. Lottie, die Tabletten gegen Schizophrenie nimmt, die ihr aber schon sehr bald ausgehen, scheint einen seltsamen Anfall zu haben; sie spricht plötzlich in fließendem Französisch, schlägt ihren Kopf gegen das Fenster, redet von Blutzoll, der gezahlt werden müsse. Auch in späteren Situationen spricht Lottie in Rätseln, hat Visionen von einem Hirsch und erlegt einen Bären vor ihrem Camp, dessen Ankunft sie vermeintlich hat kommen sehen, mit einem bloßen Messer. Auch eine Rückblende, die zeigt, wie einer ihrer Anfälle als Kind sie und ihre Eltern vor einem Autounfall bewahrte, füttert die Vermutung, dass es sich hier tatsächlich um übernatürliche Vorhersehungskräfte handeln könnte.
Lottie ist daher für die Frage nach dem Übernatürlichen in Yellowjackets sicherlich die zentralste und interessanteste Figur. Nach ihrer Hirsch-Vision und der Séance wendet sie sich Laura zu, einer tiefreligiösen Mitspielerin, die sie durch eine Taufe am nahegelegenen See in ihrer Situation unterstützen möchte. Ein in christlichen Gesellschaften tief verankertes Ritual wird damit zur Sinngebung und Rechtfertigung einer Reihe von Dispositionen angewandt, deren Ursprünge nicht genau geklärt werden können. Zwar lassen einige der Visionen von Lottie den Schluss zu, dass diese tatsächlich nicht natürlichen Ursprungs sind – beispielsweise die vage Vorhersehung von Lauras späterem Tod im Feuerball der Explosion eines wieder flott gemachten Kleinflugzeugs – gleichzeitig wird jedoch, wie bereits erwähnt, etabliert, dass Lotties Verhaltensänderungen und ‚Visionen‘ erst einsetzen, als ihre Schizophrenie behandelnden Medikamente zur Neige gehen.
Im Kontext der gestrandeten Gruppe entwickeln sich Lottie und ihre Vorhersagungen immer stärker zum zentralen Ankerpunkt einer Gemeinschaft, die zunehmend ihre eigenen Regeln etabliert und deren Lossagung von einer zivilisierten Gesellschaftsform sich mehr und mehr in ihren abweichenden Praktiken reflektiert. Nachdem bei einer Feier versehentlich halluzinogene Pilze in das Essen der Gruppe gelangen, beginnen die Mädchen Travis zu jagen, zuerst mit der angedeuteten Absicht einer Vergewaltigung, dann mit der einer zeremoniellen Opferung, angeführt von Lottie und nur knapp verhindert von der glücklicherweise nüchtern gebliebenen Jackie.
Der Streit zwischen Jackie und dem Rest der Mädchen, der sich im Nachklang an die Aktion ergibt und den wutentbrannten Abgang von Jackie zur Folge hat, offenbart die internen Allianzen, die im Laufe der Staffel entstanden sind, sowie den Rückhalt den Lotties ritualistisch geprägte, von religiösen Visionen geleitete und schonungslos matriarchale Führung mittlerweile innerhalb (zumindest eines Teils) der Gruppe hat. Während die Séance noch als ironische Replizierung eines stereotypen Rituals begann, zeigt sich die Besinnung auf die Richtigkeit der eigenen archaisch wirkenden Praktiken später ganz unverblümt. Der Glaube an den selbstentwickelten ‚Kult‘ mündet im Staffelfinale schließlich in einer Szene, die Lottie dabei zeigt, wie sie in einer mittlerweile zugeschneiten Landschaft das Herz des zuvor erlegten Bären als Opfergabe in den Stumpf eines Baumes legt und in knieender Pose die Worte: „Versez le sang, mes beaux amis [auf Englisch: Shed blood my beautiful friends], and let the darkness set us free“ aufspricht, während es die Figuren Misty und Van ihr gleichtun. Ist dies womöglich der richtige Zeitpunkt, um zu erwähnen, dass der cold opener der Serie mit einer Jagd auf eines der Mädchen innerhalb einer verschneiten Landschaft beginnt und eine Szene beinhaltet, die verdächtig auf praktizierten Kannibalismus hindeutet?
Spirituelle Sinnstiftung zwischen sozialer Praktik und übernatürlicher Bestimmung
Yellowjackets mag auf den ersten Blick wie eine Melange aus altgewohnten Konventionen wirken. In der Ausbuchstabierung der Themen, die die Serie verhandelt, stellt sich jedoch schnell heraus, mit welchem Feingefühl für Ambivalenz hier gespielt wird. Die Grenze zwischen dem was natürlichem Ursprung ist und dem Übernatürlichen, dem Schicksalshaften, ja, sogar dem Göttlichen verschwimmt in der wortwörtlichen Grenzerfahrung, die die Gruppe hier durchmacht. Abseits der gewohnten zivilisatorischen Einbettung entsteht ein Bedarf für alternative Erklärungs- und Bedeutungsmuster des Unverfügbaren einer Natur, die das radikal Archaische hervorbringt. Der Verdienst von Yellowjackets ist es, die Etablierung vorzivilsatorischer kultureller Praktiken als auch die Anfälligkeit für spirituell-sinnstiftende Führung, die aus einer solchen Grenzerfahrung entsteht, in eine erzählerische Form zu gießen, die das Spiel mit dem Schleier des Übernatürlichen bewusst dafür nutzt, um die letztgültigen Gründe für die Transformationen innerhalb der Gemeinschaft im Ambivalenten zu halten. Dadurch finden sich auch die Zusehenden in einer Situation wieder, in der die Besinnung auf das Übernatürliche als die eigentliche treibende Kraft der Erzählung zur rettenden Instanz wird, in der sich der ungeklärte Gehalt von Yellowjackets in der bereitwilligen Akzeptanz schicksalshafter und hintergründiger Mächte auflöst.
Für mich überwiegt jedoch die Freude am bewusst gestreuten Zweifel und an der Frage, ob die kulturell-symbolische Manipulation dessen, was als übernatürlich Interpretiertes in unseren (und vor allem vormodernen) Gesellschaften durch Figuren wie Lottie auftaucht, nicht das viel interessantere Thema ist, das sich aus Yellowjackets herausziehen lässt. Wer also diesen Text bis hierhin gelesen hat und wer trotz der umfassenden Spoiler angefixt ist, dem sei die Serie, die für mich zu den spannendsten Titeln der letzten Jahre zählt, wärmstens empfohlen.