Neulich hatte ich ein interessantes Erlebnis. Ich saß bei meinen Eltern auf der Couch und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie mein Vater WhatsApp „säuberte“ – besser kann ich den Prozess, der daraus bestand, alte Chatnachrichten und unerwünschte Bilder aus seinem Verlauf zu löschen, wirklich nicht beschreiben. Tatsächlich war mir ein ähnliches Verhalten zuvor auch schon bei meiner Mutter aufgefallen, und zwar immer dann, wenn ich feststellte, dass im gemeinsamen Chat mal wieder der Löschfimmel gewütet hatte und vom „Hallo“ bis zum Katzen-GIF jedweder Inhalt ausradiert wurde.
Ich habe wirklich einige Zeit über dieses Verhalten gegrübelt, da ich mir lange keinen Reim darauf machen konnte. Als jemand, der in der Aufbruchsstimmung des Internets der frühen 2000er aufwuchs und der seine digitalen Anwendungen und Chatprogramme seit jeher mit einer „Nach mir die Sintflut“-Attitüde bedient hatte, mit der jede versendete Nachricht gedanklich irgendwo im binären Nirvana landete, schien mir die Vorstellung, regelmäßige und minutiöse präventive Aufräumarbeiten in meinen Kommunikationssystemen zu betreiben, geradezu absurd.
Irgendwann fiel der Groschen und ich kam zum Ergebnis, dass es wohl daran lag, dass meine Eltern mit der Vorstellung eines solchen vermeintlich digitalen Utopias der unbegrenzten Möglichkeiten einfach nie in der gleichen Form sozialisiert wurden, wie ich; irgendeine berechtigte Grundskepsis (ich schätze, es war die Angst vor Speicherplatzknappheit) hatte sie dazu verleitet, aktiv zu werden, ehe das, was in die digitale Blackbox hineingeworfen wurde, eine kritische Masse erreichen und sich – aus der Perspektive ihrer digitaltechnischen Unerfahrenheit – zu einem üblen Problem jenseits ihrer Fähigkeiten entwickeln konnte. Gerade Bilder und Videos der alltäglichen Kommunikation betreffend, denen man keinen allzu großen emotionalen Wert beimisst, kein blöder Gedanke, aber dass einzelne Chatnachrichten heutzutage wohl kaum noch einen ähnlichen Verstopfungsfaktor im Speichermanagement hervorrufen würden, spielte für meine Eltern in ihrer Aufräumjagd keine Rolle.
Dass sich hier ein Thema verbarg, das weit über diese individuelle Anekdote hinausragte, wurde mir spätestens dann klar, als ich – die Linse meiner Eltern übernehmend – in einem ersten Schritt meiner Grübelei den Großteil unserer tagtäglichen digitalen Kommunikation als das zu sehen begann, was sie wirklich war: Müll, beziehungsweise Datenmüll. Das heißt natürlich nicht, dass diese Kommunikation im Moment ihrer Entstehung bereits Müll ist. Sie wird es erst dadurch, dass sie – nach ihrer meist verschwindend geringen Halbwertszeit der Relevanz – beinahe augenblicklich in Vergessenheit gerät, um in den Untiefen undurchsichtiger Dateistrukturen ein Dasein in der Irrelevanz zu fristen. Dort erstmal angekommen, besteht die einzige Möglichkeit, sich erkenntlich zu machen, aus der Hoffnung, doch noch als (zunehmend mikrologisches) Segment einer tatsächlich Speicherknapptheit in Erscheinung zu treten.
Ökologischer Exkurs: Dark Data, physische und digitale Mülldeponien
Das Prinzip „Aus den Augen, aus dem Sinn“ wiegt in der technischen Virtualität noch mal um einiges schwerer als in echt. Noch nie ließ sich der sprichwörtliche Schnee von gestern – in Form exponentiell wachsender Datenberge, längst vergessener Dokumente oder vor Jahren digitalisierter Musik-CDs – so prima ignorieren, wie heute, wo wir mit nur wenigen Mausklicken Ordner in Ordner verschieben und diese von unserem Desktop in ein weiteres digitales Hinterzimmer verbannen können.
Tatsächlich gibt es für diese unbeachteten und ignorierten Datenmengen einen Begriff: Dark Data. Einer Studie aus dem Jahr 2019 zufolge fallen über die Hälfte fallen über die Hälfte aller gespeicherten Daten von Unternehmen in diese Kategorie, womit gemeint ist, dass bei diesen Daten das Wissen fehlt, wie sie überhaupt für das Unternehmen zu finden und zu nutzen seien. Der Begriff des Datenmülls oder des Dark Data wird häufig im Kontext des anthropogenen Klimawandels herangezogen. Der CO²-Ausstoß, der vor allem durch die Archivierung und Sicherung der nicht genutzten Datenmengen entsteht, erreichte im Jahr 2020 laut einer Studie des Software-Unternehmens Veritas eine Höhe von bis zu 6,4 Millionen Tonnen. Zum Vergleich: Die Gesamtmenge der im Jahr 2019 ausgestoßenen Tonnen CO² lagen bei ca. 36 Millionen.
Dieser Umstand ist sehr tragisch, lässt sich aber im Kern ganz bestimmt nicht dadurch lösen, dass wir etwa alle ein paar sinnlose Emails löschen – auch wenn das sicher nicht die schlechteste Idee ist. So wie sich Verantwortlichkeit für den Klimawandel allgemein nur schwerlich rein individuell abwälzen lässt, sondern vielmehr durch die größten Akteure und Verantwortlichen angestoßen werden muss, liegt die Lösung auch hier nicht ursprünglich bei individuell anzupassenden Verhaltensänderungen.
Auch wenn der Fokus dieses Textes nicht auf einer ökologischen Kritik liegen soll, lohnt es sich an dieser Stelle den kleinen Exkurs noch ein wenig zu vertiefen. Denn die Art und Weise wie wir in der digitalen Sphäre mit virtuellem Müll umgehen, spiegelt an vielen Stellen die Mechanismen wider, mit denen wir auch in der physischen Welt unsere (in Vergessenheit geratenen) Ressourcen behandeln. Der Utopismus der unendlichen Weiten des Internets stellt sich, wie wir gesehen haben, bei genauerem Hinsehen nur als verlängertes ökologisches Problem heraus, das seinen Kern in der Begrenztheit unseres umweltverträglichen Verbrauchs hat.
So wie wir unliebsame Datenmengen in den hintersten Ecken unserer Festplatten abladen, wird auch der Müll der Industrieländer über die Weltmeere geschippert und auch hier gilt die Devise: „Aus den Augen aus dem Sinn“. So landet beispielsweise unser Elektroschrott, vordergründig im Sinne einer Zweitverwendung, in afrikanischen Ländern wie Ghana oder Nigeria, oder auch in asiatischen Ländern wie Vietnam, Thailand oder Indien, und wird dort de facto – soweit überhaupt möglich – recycelt. Die Vorstellung, dass mit dieser Methode ein astreines Kreislaufmodell für Elektrogeräte etabliert sei, ist allerdings fatal, denn häufig wirken – wie im Falle moderner Smartphones – geplante Obsoleszenz, Reparaturuntauglichkeit in der Verarbeitung und die oft nur geringe Wiederverwertbarkeit der Rohstoffe einer tatsächlich nachhaltigen Verwertung entgegen.
Nicht groß anders steht es oftmals mit Plastikmüll, der mit den gleichen Zielen in wirtschaftlich ähnlich prekär dastehende Entwicklungsländer verschickt wird und dort in vielen Fällen verbrannt wird, oder noch schlimmer, auf Deponien allmählich in das Grundwasser der Regionen sickert. Auch die schleichende Vermüllung unsere Ozeane läuft größtenteils im Stillen ab und tritt oftmals nur dann zum Vorschein, wenn Meerestiere mit Plastik im Magen Schlagzeilen machen, wenn also genau jenes Szenario eintritt, das meine Eltern scheinbar auch in der Digitalität fürchteten: Der vermeintlich alles und ewig schluckende Abgrund stellt sich als Farce heraus und fördert das zutage, was eigentlich in Vergessenheit geraten sollte.
Begrenzte Ressourcen, unbegrenzte Virtualität?
Wie lassen sich nun also der physische Müll und seine ökologischen Probleme mit der Illusion des grenzen- und bedenkenlosen Utopismus der digitalen Virtualität zusammenbringen? Beides funktioniert nach ähnlichen Ordnungsmustern, beides bedingt sich gegenseitig. Und womöglich hat letzteres auch dafür gesorgt, dass unser Umgang mit physischem, klimaschädlichem Müll im Speziellen und Ökologie im Allgemeinen noch effizienter den Mustern des Wegdirigierens und Aus-dem-Sichtfeld-Verbannens folgen konnte. In fundamentaler Weise plädiere ich dafür, dass unser illusionäres Verständnis digitaler Ressourcen mit Blick auf die Zukunft einer Neuformulierung bedarf.
Dies soll in meinen Augen nicht primär dem kurzfristigen Ziel dienen, stärker CO² einzusparen, sondern viel stärker noch dem langfristigen Ziel einer größeren Demut gegenüber den faktischen Grenzen, die unsere Lebenswelt unweigerlich bestimmen. Das Themenfeld Dark Data zeigt, dass ein großer Teil der gespeicherten Inhalte bereits dermaßen in die Irrelevanz und Vergessenheit geraten sind, dass sogar mögliche Verwendungszwecke nicht mehr ausgemacht werden können. Das Erstellen von Sicherheitskopien, und von Sicherheitskopien längst vergessener Sicherheitskopien durchdringt die digitale Sphäre, denn selbst wenn die Empirie zum Status Quo Gegenteiliges vermuten lässt, ist die Angst vor der Vergänglichkeit, der finalen Auslöschung von Daten und Erinnerungen in Zeiten des Internets zu einer schizophrenen Leitfigur im Kult der ewigen Bewahrung mutiert.
Der utopische Geist des Internets steht auch für die Verfügbarkeit von allem, die gleichzeitige Abrufbarkeit in mannigfaltigen Ausführungen, um genau zu sein; steht für den millionenfachen Hochfrequenzhandel, jeden Tag, auf den Finanzmärkten der Welt; und steht dafür, dass es mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geworden ist, dass Internetgiganten wie Google und Facebook uns anbieten, unbegrenzte Datenmengen auf ihre Plattform zu laden, vermeintlich kostenlos, aber mit dem Preis von Monopolstrukturen, fehlenden Regulierungen und Werbungsüberfluss.
Dieses Angebot ist nicht nur trügerisch, es lassen sich mittlerweile auch erste Anzeichen einer sichtbaren Vermüllung erkennen. Wie das Internet wohl aussehen könnte, wenn wir dem digitalen Raum eine ähnliche Demut entgegenbrächten, wie es der physikalische von uns verlangt? Wenn Netzflächen und Speicherkapazitäten tatsächlich und trotz der digitalen Möglichkeiten der Massenspeicherung als bewusst raumfüllend wahrgenommen werden würden? Als Elemente, die unsere räumliche, kognitive und emotionale Erfahrung in der Digitalität sowohl positiv als auch negativ beeinflussen können und die ihre Gemeinwohlorientierung nicht qua eines technischen Fortschrittgedankens bereits im Code eingeschrieben haben?
Datenmassen sind in den letzten zwanzig Jahren selbst zur Ware geworden, dann zu Müll und anschließend wieder zur Ware, denn im digitalen Spätkapitalismus lassen sich Werbungstrukturen noch in jeden größten Misthaufen integrieren, um diesen wieder eine Wertigkeit zuzusprechen (Beinahe sind wir damit schon wieder beim ökologischen Exkurs, der globalen Verwertungskette von Plastik und Elektroschrott). Dieser zu verwertende Überfluss lässt sich auch politisch nutzen, wie wir in den letzten Jahren erfahren durften, sei es in Form von Microtargeting à la Cambridge Analytica sowie anhand von Künstlicher Intelligenz und Machine Learning in Überwachungs- und Gesichtserkennungstechnologien. Nicht zu ignorieren ist auch die tendenziell zunehmend komplexe Verifizierung realer Fakten, die – so lange Marktmechanismen Vorrang vor demokratischer Aufklärung und Bildungsprozessen haben – der Gefahr ausgeliefert sind, innerhalb der Schwemme des Informationsmülls zur Stecknadel im Heuhaufen zu werden.
Gemeinwohlorientierung statt marktgetriebene Vermüllung
Viel zu lang ersetzte der Wunsch nach neuen Formen der digitalen Transgression (zu diesem Thema im Kontext des digitalen Kulturkampfes empfehle ich das Buch „Kill All Normies“ von Angela Nagle), die Vorstellung einer neuen Grenzenlosigkeit innerhalb einer bis dato begrenzten, vollständig kartographierten und abgesteckten Welt Fragen des Gemeinwohls und der adäquaten Nutzung. Je natürlicher sich digitale Technologie anfühlt, je stärker sie verkörperlicht wird und in Fleisch und Blut übergeht, und je mehr der digitale Raum als naturwüchsiger und nicht als kontingenter Prozess verstanden wird, desto weiter entfernen wir uns von der Lösung des eigentlichen Problems unserer Zeit: Dem zukunftsorientierten Umgang mit Ressourcen in einer begrenzten Welt, in der Rohstoffe aufgebraucht werden und auch Digitalität letztendlich materiell rückgekoppelt ist. Dafür braucht es einen Wandel eben dieser materiellen Zustände von der Verfügbarkeit der wenigen hin zu einer solidarischen Nutzung der vielen.
Im digitalen Raum selbst jedoch, in dem weniger Materielles als Ideologien verwaltet werden, braucht es zudem auch einen Sinnes- und Strukturwandel: Niemand sollte seine Chatnachrichten oder Social-Media Kommunikationen eigenhändig ausmisten müssen, um damit das Beispiel zu Beginn des Textes zu bemühen, aber unsere Plattformen sollten der bedachten Füllung unserer digitalen Räume ein stärkeres Vorrecht geben. Man stelle sich beispielsweise vor, das Versprechen der freien Speicherkapazität auf einer Seite wie YouTube würde mit dem Deal einhergehen, dass ein Profil nur maximal 100 Videos hochladen dürfte. Welchen Einfluss hätten derlei Rahmensetzungen (die zu früheren Zeiten durchaus noch existierten) auf die Umgangsweise mit den Plattformen? Wäre es wirklich ein Verlust, wenn beispielsweise Twitternachrichten, die älter als fünf Jahre sind, automatisch gelöscht werden würden (unter der Voraussetzung, dass wissenschaftliche Forschung vereinfachte Zugänge zu den Schnittstellen digitaler Plattformen bekommen, um für sich das zu speichern, was für sie von Relevanz ist)? Gerade aktuelle Fälle, in denen „Jugendsünden“ einzelner Politikerinnen zum massenmedialen Highlight stilisiert wurden, geben hier zumindest Denkanstöße.
Und diese hoffe ich auch mit meinem Text gegeben zu haben. Leider entlasse ich euch ohne klare Lösung und hinterlasse womöglich selbst in Bezug auf die eigentliche Problemdefinition einen Dissens. Die Verbindung zwischen realen Ressourcen und (vermeintlicher) digitaler Ungebundenheit, sowie die Ideologie der Unbegrenztheit und Zukunftsblindheit im physischen und virtuellen Raum scheinen mir allerdings zwei elementare Aspekte innerhalb der ökologischen und demokratischen Krisen zu sein, die wir aktuell erleben. Vielleicht war dies also nur ein erster, gedankenstromartiger Versuch einer Artikulation dieser Problematiken, die sich nach genauerem Nachdenken noch konkreter und ausdifferenzierter darstellen lassen. Lasst mir gerne Eure Gedanken da und teilt mir mit, was ihr von diesem Thema haltet!